Reisesucht

Katharina Steiner
4 min readApr 17, 2021

Blicken wir auf einen Globus und suchen nach dem winzigen Punkt, auf dem sich unser Leben abspielt, wird uns bewusst, dass der Ort, an dem wir wohnen, nur ein sehr kleiner Teil der Erde ist und dass wir uns, Mikroben gleich, zu Milliarden auf diesem Planeten bewegen. Egal wie schnell wir in modernen Verkehrsmitteln die Erde bereisen — unser Leben wird niemals ausreichen, um an alle Orte dieser Welt zu gelangen und sie mit unseren eigenen Füßen zu betreten. Johann Wolfgang von Goethe schrieb: „Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen.“ Das Selbstverständnis des Menschen, nur bis zu dem Punkt zu laufen, wohin ihn seine Füße tragen, ist der Allmachtsphantasie gewichen, jeden Ort erreichen zu können. Was treibt den modernen Menschen in seinem Versuch, jeden Winkel der Erde zu bereisen? Vieles scheint möglich im Zeitalter der uneingeschränkten Mobilität. Diese Beweglichkeit ist momentan eingeschränkt. Die Corona Krise hat uns auf uns selbst zurückgeworfen, auf unsere Beziehungen, unsere Familien, unsere Wohnungen. Das Gebundensein an Zuhause führt uns vor Augen, wie klein unsere eigene Welt werden kann und dass das Leben nicht immer aus einer Vielzahl von Optionen besteht.

Allgemein glaubt man, ein gutes Leben sei ein erfülltes Leben, in dem alle Möglichkeiten ausgekostet werden. Freie Zeit muss genutzt werden, Warten ist vergeudete Zeit. Momentan besteht unser Leben aus Warten, Warten auf die Eindämmung der Pandemie, auf das Wiedergewinnen unserer Freiheit und Beweglichkeit. Wir sehnen uns nach Ausflügen und Reisen in unberührte Landschaften und fremde Kulturen. Doch aus der Alltäglichkeit unserer Umgebung zu entfliehen, in Bewegung zu sein und zu Reisen ist momentan nur eingeschränkt möglich. Was bedeutet es für uns, vorwiegend an einem Ort zu sein? Ist dieser Ort nicht der Mittelpunkt unserer Welt? Warum fällt es uns so schwer, uns in Genügsamkeit zu üben und unsere Zeit ohne Zerstreuung zu verbringen? Warum wünschen wir uns immer, an einem anderen Ort zu sein? Fürchten wir uns vor der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen, der eigenen Unzulänglichkeit, der eigenen Sterblichkeit?

Schon in der Antike waren die die Menschen viel unterwegs, auf der Suche nach Handelsbeziehungen oder auf Pilgerfahrten zu religiösen Heiligtümern. Kultur- und Bildungsreisen fanden bereits im griechisch-römischen Kulturkreis statt. Unter den adeligen Römern galt die Devise, einmal im Leben nach Griechenland zu reisen, um die eigene Bildung zu festigen. Zerstreuung suchten die privilegierten Schichten bei Wettkämpfen und Aufenthalten an den Küsten des Mittelmeerraumes. Schon früh wurde über diese aufkommende Reisesucht geschrieben. Der römische Philosoph Seneca äußerte sich über seine getriebenen Zeitgenossen: „Nicht mäßigt das Reisen die Genusssucht, nicht zügelt es seine Begierden, nicht dämpft es seinen Jähzorn, nicht bändigt es den hemmungslosten Ungestüm seiner Liebe, schließlich entfernt es aus seiner Seele keinerlei schlechte Neigungen. Nicht vermittelt es Urteilsfähigkeit, nicht beseitigt es den Irrtum, sondern wie einen Knaben, der Unbekanntes bewundert, hält es einen für kurze Zeit durch die Neuigkeit der Erlebnisse gefangen. Im Übrigen wird unsere Seele am meisten von dem, woran sie krankt, gereizt, noch hektischer und oberflächlicher macht sie das ständige Hin und Her. Daher verlassen die Menschen die Orte, die sie voller Sehnsucht aufgesucht haben, noch sehnsüchtiger, nach Art von Vögeln fliegen sie vorüber und gehen schneller wieder weg, als sie gekommen waren …“ (Seneca, Epistulae morales 104)

Andere Reisedurstige, Entdecker, Forscher und Gelehrte vermehrten auf ausgedehnten Reisen in die entlegensten Gebiete ihre Erkenntnisse und veränderten den Blick auf die Welt. Durch Reisen wurden und werden wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen und weltweit kommuniziert. Ohne sie hätten wir eine andere Vorstellung von der Welt. Bis heute fördern Reisende den Austausch von Kultur, Wissenschaft, Technik, Malerei, Architektur, Dichtung, Sprache oder Musik und prägen unsere Vorstellung von der Vielfalt der Welt.

So unterschiedlich die Beweggründe des Reisens sein mögen, die negativen Nebenwirkungen wie Luftverschmutzung und der Klimawandel sind allgegenwärtig. Die Verfügbarkeit, der Reisekomfort und das Reisetempo verführen zu schnellen Ortswechseln. Ein paar Klicks und wir sind am Ort unserer Träume. Ein Katzensprung. Indem wir versuchen, möglichst schnell aus dem Getriebe des Alltags zu entfliehen, vielfach auf der Suche nach Ruhe und unberührter Natur, zerstören wir sie an anderer Stelle und berauben uns dadurch der Ziele unserer eigenen Sehnsucht.

Reisen bleibt ein menschliches Bedürfnis, unsere Sehnsucht wird uns wieder in ferne Länder führen, auch nach der Corona-Krise. Krise, griechisch „crisis“ heißt Weggabelung, Entscheidung. Wenn uns der Weg in die weite Welt versperrt bleibt, können wir einen anderen Weg einschlagen und versuchen, Sehnsuchtsorte in unserer Nähe zu finden. Vielleicht gelingt es uns wieder, unsere nähere Umgebung mit neuen Augen zu sehen. Die Reise beginnt im Kopf.

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Katharina Steiner

Writes about sustainability, society, philosophy and future aspects. Worked as actress and dramaturg. Mother of two children. Lives in Munich, Germany.